„Lasst uns ein kleines Zeichen setzen!“
Das Sommersemester: digital. Das Universitätsorchester: auch! Die Musiker:innen spielten einzeln jede Stimme von Bachs „Jesus bleibet meine Freude“ ein. Das Ergebnis ist ein einmaliger Videoclip. Auch die Proben haben wieder begonnen – unter strengen Hygieneregeln. Dirigent Oliver Leo Schmidt spricht über Erfahrungen und Perspektiven.
Wie hat sich die Coronakrise auf das Universitätsorchester ausgewirkt?
Oliver Leo Schmidt: Wie überall: Covid-19 hat die Kultur quasi k.o. geschlagen. Ein nahezu perfekter Knockout. Über Nacht ging nichts mehr. Die Versuche, irgendeine Probe, geschweige denn ein Konzert auf die Beine zu stellen, hatten etwas von Sisyphos. Man rollt etwas hoch, und der ganze Mist fällt einem dann wieder auf die Füße mit Absagen und Vertröstungen. Traumatisch war das alles nicht; aber man glaubt sich in einem Traum, bis man bemerkt: huch, der ist ja Wirklichkeit. Und damit leben wir, wie alle. Aber in der Traurigkeit darüber war auch immer noch dieser kleine Silberstreif, dass sich alles wieder fügt. Aber noch fügt sich gar nichts.
Ein Semester ganz ohne Musik? Was hat das Orchester stattdessen gemacht?
Schmidt: Erst einmal nichts. Betrauern, wie man so schön sagt. Die Musik lag ja mit einem Mal nahezu regungslos auf dem Boden. Überall diese Stille, und das in einem so musik-affinen Land. Niemand weiß, ob wir wieder dahin kommen, wo wir waren. Da ist doch sehr viel Kulturlandschaft weggebrochen. Wie soll das wiederkommen? Aber im Orchester regte sich etwas. Die Mitglieder wollten raus aus dieser Starre. Und sie sagten: Lasst uns ein kleines Zeichen setzen! Wir sind nicht nur als Orchester da, sondern wir wollen zeigen, dass Musizieren ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist, von dem alle leben. Und dann kamen die Impulse. Ich war beeindruckt und gerührt.
Wie sah das aus?
Schmidt: Ich habe das erst einmal nicht so ganz begriffen. Unser Solohornist Lukas sprach von irgendeinem Clip mit Bach, den sie ins Netz stellen wollen. Wissen Sie: Ich bin kein Liebhaber der digitalen Aufzeichnung. Überhaupt: Das ist, als schaute man sich Urlaubsbilder an, und man ist nicht mehr an dem Ort, wo die Zitronen blühen. Die leibhafte Präsenz des Erlebens, ihre Einmaligkeit kann man nicht reproduzieren. Und dann fragte mich Lukas auch noch, ob ich nicht dazu dirigieren könne. Sie müssen sich vorstellen: Ich dirigiere zur Musik, die im Hintergrund läuft. Das ist wie Loriot vor dem Spiegel – Luftfechten ohne Wirkung, und das zu Bachs „Jesus bleibet meine Freude“. Aber ich hörte, wie sich immer mehr dieser Idee anschlossen und jeder seine Stimme auf seinem Instrument einspielte. Und letzte Woche sah ich die Vorab-Version. Ich sah die Begeisterung, wie unser Fagottist mit seiner Frau, unserer Stimmführerin in den Zweiten Geigen zusammen Bach spielte. Ein anderer saß mit seiner kleinen Tochter zusammen. Das sind Bilder, die anrühren. Und wer dazu Bach hört, fühlt, wie plötzlich alles eine andere Ebene erhält. Diese Musik trägt, sie tröstet, und sie ist mit diesen Bildern tiefer Ausdruck für die Liebe dieser Menschen zur Musik.
Was für ein schönes Zeichen unseres Orchesters. Ich denke, das ist hier im Umfeld einmalig.
Wie geht es im Wintersemester unter diesen Bedingungen weiter?
Schmidt: Alle kämpfen. Sogar städtische Institutionen kämpfen um ihr Überleben. Die Freischaffenden sind einem existenzbedrohendem Druck ausgesetzt, wo keiner mehr weiß, wohin er führt. Das Universitätsorchester unterliegt nicht diesem Druck. Aber es hat Druck. Es will nämlich spielen, eben aus dieser Leidenschaft. Das Programm haben wir wie andere auch komplett den Corona-Regeln unterworfen: nicht länger als eine Stunde und nicht mehr großsinfonisch besetzt, sondern mit kleinen „Hinguckern“: Beethovens Erste Sinfonie und Mendelssohns Violinkonzert mit der sehr jungen Ausnahmegeigerin Eva Otto. Wir müssen, da wir ein sehr großes Orchester sind und nicht alle auf die Bühne dürfen, mit zwei kleinen verschiedenen Besetzungen pro Stück spielen. Das wird für die Proben extrem kompliziert. Fragen Sie nicht, wie umfangreich die Hygienebestimmungen sind. Und dann wollen wir hoffen, dass wir vor ausreichend Publikum in der Philharmonie und im Theater Duisburg spielen. Auch hier gilt weiter: nur wenig Publikum ist erlaubt. Aber es ist ein Anfang nach so langem Fasten.
Stellt das abgespeckte Programm Sie vor besondere Herausforderungen?
Schmidt: Gestern hörte ich das Folkwang Kammerorchester bei einer Probe. Was für eine eingeschworene Truppe mit einem tollen Dirigenten. Das Universitätsorchester, abgesehen davon, dass es aus Laien und Semiprofis besteht, kennt kein kammermusikalisches Agieren. Es reagiert nicht so flexibel und nicht so reflexhaft. Jeder fühlt sich in der großen Gruppe wohl. Nun soll jeder komplett auf sich selbst gestellt sein, weil es diesen „Klangschwarm“ in der kleinen Beethovenbesetzung nicht mehr gibt. Jeder steuert den Karren selbst. Die Anforderungen an alle und an den Klang sind gewaltig. Zu dem kommt: In der Essener Philharmonie spielen zu dürfen, ist eine Auszeichnung mit Anspruch. Ich habe großen Respekt davor. Die phänomenale Akustik trägt, wenn’s läuft, aber sie offenbart auch gnadenlos Schwächen. Das erfordert eine große Disziplin, die das Orchester wohl hat. Aber dennoch: Mein Optimismus ist auch mit knallhartem Realitätssinn verschwägert. Beim Musikmachen geht es schließlich nicht nur um die Koordination von Leidenschaften. Da muckt der Schwager auf, da gibt es erst einmal lauter Neins: nicht so und nicht so, bis sich dann ein kleines Ja aus der Ecke meldet. Und das soll auch noch in der Philharmonie überzeugen.
Warum ist die Kultur gerade in diesen Zeiten besonders wichtig?
Schmidt: Da stellen Sie einem alten Folkwänger eine gute Frage. Corona hat einiges zu Tage befördert. An Folkwang lehrte man uns, dass die Bedeutung einer Sache immer ihr Gebrauch ist. Was Kultur ist, kann ich Ihnen nicht sagen, wohl aber, was sie für den Einzelnen bedeuten kann. Und Corona hat eines aufgezeigt: Durch das Nicht-machen-dürfen kam ihre Bedeutung wieder heller ans Licht. Mein verstorbener Vater, Jahrgang 1918, erzählte von Chören, die sich in sibirischen Gefangenenlagern gebildet haben. Warum singen die? In Auschwitz hat ein Mädchenorchester das Leben so vieler gerettet. Sie sehen, so weit reicht das: Musik kann Leben retten, kann dem Elend eine Dimension geben, das Sein bereichern. Für die meisten Menschen bedeutet Kultur „Leben“ im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ist existenzieller Ausdruck. Aber in Corona-Zeiten hat’s gerade den Eindruck, als sei sie eine nette Aufhübschung des Lebens, wie ein polierter Schuh, wo sie doch wesensbestimmend ist. Fast gleichgültig betrachtet man, dass gerade einiges über die Wupper geht und mit ihnen Menschen. Erst kommt das Fressen, dann die Kultur. Was für ein Unfug.
Unser Orchester ist nur ein Teil dieser Bedeutung. Es ist nicht viel, aber es bedeutet vielen alles. Mehr nicht. Wir müssen wieder anfangen. Vielleicht wird das Publikum durch Corona wieder etwas aufmerksamer … und glücklicher.